Dienstag, 2. Juni 2015

Mit meine eigene Augen das Hakenkreuz

Oh, Wilhelm, ich weiß, wir wollten uns abwechseln, was die Beiträge auf diesem Blog hier anbelangt, aber ich muss dir unbedingt von etwas erzählen, was mir letztens aufgefallen ist. Ich habe nämlich letztens Maus gelesen und musste mich wirklich zusammenreißen, weil ich so etwas schon lange nicht mehr bei einem künstlerischen Werk erlebt habe. Aber zunächst einmal möchte ich kurz beschreiben, worum es bei Maus geht.

Maus von Art Spiegelman ist ein Comic über die Shoa. Es ist die Geschichte von Wladek Spiegelman, der für das Buch seines Sohnes von den Erlebnissen in den polnischen Ghettos und den Vernichtungslagern Auschwitz und Dachau berichtet. Dabei springt die Erzählung zwischen der Nachkriegszeit, in der Arts Schwierigkeiten dargestellt werden, mit seinem Vater auszukommen, und der Kriegszeit, in der Wladek versucht, am Leben zu bleiben, hin und her. Das Buch hat 1992 für seine vielschichtige und stark selbstkritische Erzählung den Pulitzer-Preis gewonnen und gilt als ein Meilenstein der Comic-Geschichte.



Okay, und nun atmen wir mal kurz durch, denn ich möchte gar nicht über die literarischen Techniken sprechen, die der Comic anwendet, um seine Geschichte zu erzählen. Ich möchte auch nicht über die anthropomorphen Tierdarstellungen sprechen, die metaphorisch für die verschiedenen Nationalitäten stehen. Ich möchte nicht einmal unbedingt über die Frage diskutieren, für wen dieses Buch etwas Neues bereithält. Das hat mich zwar auch alles mitgerissen, aber es ist nicht das, worüber ich sprechen möchte.

Ich möchte dir vielmehr eine Kleinigkeit vorstellen, die das Buch für mich unvergleichlich macht. Vielleicht verrate ich schon ein wenig zu viel, wenn ich davon erzähle. Aber es ist nicht wirklich ein Spoiler, eher eine Interpretation der Charaktere, und zwar eine, die mich tieftraurig gemacht hat.

Das Buch erzählt ja auf mehreren Ebenen, so auch hin und wieder in einer Meta-Erzählung, in der Art und Wladek zusammen interagieren. Diese Situationen erscheinen mir so, als wären sie für Art äußerst unangenehm, weil sein Vater häufig exzentrisch handelt. In einer Situation bringt er zum Beispiel halbaufgebrauchte Lebensmittel wieder in den Laden zurück, streitet sich mit dem Besitzer und verkündet danach stolz, dass er die Lebensmittel für bessere eintauschen konnte.

Diese Exzentrik begleitet Wladek die gesamte Rahmenhandlung über. Immer ist er darauf aus, alles selbst in die Hand zu nehmen, zu sparen, obwohl er sehr wohlhabend ist, und so weiter. Er sucht sogar in Mülltonnen nach Gegenständen, die er für nützlich hält. Diese Handlungen beschämen Art mehr und mehr, und es ergibt für ihn überhaupt keinen Sinn, warum sein Vater so stur mit seiner Umgebung ist.

Und dann wird es klar. Nachdem ich ca. drei Viertel der Geschichte gelesen habe, entsteht in mir das Gefühl einer Nachvollziehbarkeit. Es steht nirgendwo ausgeschrieben, aber ich glaube, dass es jedem mit der Zeit klar werden wird, weil es immer wiederholt wird. Die gleiche literarische Technik, immer und immer wieder.

Wladek ist so unerträglich, so menschenfeindlich, so peinlich, weil er überlebt hat, weil diese Eigenschaften ihn möglicherweise überleben lassen haben. Das ist schwierig zu beschreiben. Er hat nicht überlebt, weil diese Eigenschaften dazu führen, dass man überlebt, sondern weil er Glück hatte. Aber es scheint so, dass diese Eigenschaften dort mit hineingespielt haben. Wladek hat überlebt, weil er genau so ist oder aber weil er durch den Krieg genau zu diesen Handlungen gezwungen wurde. Hätte er sich anders verhalten, wer weiß, was passiert wäre.

Und dann komme ich zu dem Ergebnis, dass diese ganzen Streitigkeiten zwischen Art und Wladek überhaupt keine Bedeutung haben. Art scheint sich selbst darüber bewusst zu sein, dass sich sein Vater zwar furchtbar verhält, aber er nicht weiß, ob er ihn dennoch jemals erreichen kann, wenn er bedenkt, dass dieser Mann trotz allem Auschwitz überlebt hat. "Das Leben schlägt sich immer auf die Seite der Lebenden."

Es ist keine schöne Geschichte. Sie zeigt mir vielmehr, unter welchen Bedingungen, Menschen überleben und was dieses Überleben ausmachen kann. Und ich kann nicht mehr über dieses Buch schreiben. Und ich will das auch nicht. Es erscheint mir plötzlich alles so unnütz. Vielleicht fasst es dieses Zitat aus dem Buch am besten zusammen: "Aber es haben nicht die BESTEN überlebt, und es sind auch nicht die Besten umgekommen. Es war ZUFALL."

1 Kommentar:

  1. Ein Hoch auf das Anthropisches Prinzip:
    Es ist so, wie es ist. Denn wäre es nicht so, wie es ist, könnten wir nicht feststellen, dass es so ist, wie es ist...

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